IV.
Scientology und die analytischen Definitionen der Religion

Eine weitere Form, in der die Religion gegenwärtig in den Sozialwissenschaften definiert wird, ist die analytische Form, d. h. sie wird anhand der verschiedenen Mittel charakterisiert, in denen die Religion sich selbst manifestiert. Von dieser Sicht aus wird davon ausgegangen, dass unter allen Religionen eine weitgehende Übereinstimmung über die Formen besteht, durch die der religiöse Mensch seine Religiosität ausdrückt und durch die es möglich wird, die Aspekte festzulegen, die solche Religiosität darstellen. Zu diesen Aspekten zählen:

a) Das Teilen des Glaubens, der die Hauptdoktrin der Gruppe darstellt; b) die Teilnahme an Ritualen und Andachtsübungen; c) das Erleben des direkten Kontaktes mit der ultimativen Realität; d) die Aneignung von religiösen Informationen und e) das Erleben der Veränderungen oder Ergebnisse im alltäglichen Leben, die aus den anderen Aspekten der Religiosität gewonnen werden (Stark und Gluck, 1985).

Sich aus dieser Sicht zu fragen, ob die Scientology eine Religion darstellt, gleicht einer Untersuchung, ob die Scientology Kirche als Institution erwartet, dass ihre Anhänger religiös sind, d. h. dass sie ihre Religiosität auf verschiedene Arten manifestieren, die alle als universal erachtet werden.

IV.I. EINE DOKTRIN TEILEN

Angeblich erwarten religiöse Institutionen von ihren Anhängern, dass sie ihre doktrinellen Prinzipien teilen. (Stark und Gluck, 1985:256) In dieser Hinsicht kann festgestellt werden, dass die Kirche der Scientology ein eindeutig strukturiertes, zusammenhängendes Ganzes vorgibt und sich ihre Anhänger damit ihre Doktrin aneignen. Die Praktik der Scientology besteht zu gleichen Teilen aus dem Auditing und der Ausbildung in ihren Prinzipien. Die Kirche bestätigt, dass sich das Auditing mit dem „Wie“ befasst, während in der Ausbildung das „Warum“ gelehrt wird.

Das in den Ausbildungskursen verwendete Material besteht aus Büchern, Veröffentlichungen, Filmen und aufgezeichneten Vorträgen des Gründers der Kirche, die in einer vorgezeichneten Reihenfolge studiert werden. Dieses Material entspricht den Schriften traditioneller Religionen: Es wird nicht interpretiert oder erklärt. Besondere Aufmerksamkeit wird im Gegenteil darauf gerichtet, dass ein Jünger die Worte des Gründers in ihrer „reinen Form“ hört. Die Scientologen glauben, dass Mr Hubbard einen genauen und nachvollziehbaren Weg zur spirituellen Erlösung gefunden hat: Wenn sich nach den Studien der von dem Gründer der Scientology vorgegebenen Verfahren nicht der erwartete Erfolg einstellt, so liegt dies daran, dass die Verfahren nicht verstanden oder nicht genau angewendet wurden. Die Möglichkeit, dass sich in der Originalversion der von Mr Hubbard verfassten Schriften ein Fehler befindet, wird daher gar nicht erst in Betracht gezogen.

Die Leiter der Ausbildung werden in der Scientology „Kursüberwacher“ genannt und gelten als Experten in der Technologie des Studierens und als geübt im Finden und Beseitigen von Hindernissen, die gegebenenfalls den Weg der Studierenden blockieren. Zu den Aufgaben des Kursüberwachers gehört es auch, sicherzustellen, dass die Doktrin ordnungsgemäß vermittelt wird und keine abweichenden Versionen oder anderweitigen Interpretationen aufkommen. Der Kursüberwacher hält keine Vorträge und vermittelt den Auszubildenden nicht seine eigene Version zu dem Thema. Um Änderungen an dem Original zu vermeiden, ist es den Kursüberwachern strengstens verboten, irgendeine Art von verbaler Interpretation des Materials zu vermitteln.

IV.II. TEILNAHME AN RITUALEN
UND ANDACHTSÜBUNGEN

Eine andere Form, durch welche Religionen offensichtlich erwarten, dass ihre Anhänger ihre Religiosität zum Ausdruck bringen, besteht in der Teilnahme an Ritualen und Andachtsübungen. In dieser Hinsicht ist erstens festzustellen, dass die Kirche der Scientology die gleichen Rituale feiert wie andere religiöse Einrichtungen, wie z. B. sonntägliche Gottesdienste, Hochzeiten, Beerdigungen und Namensgebungen für neugeborene Kinder.

Dies sind jedoch nicht die einzigen Aktivitäten, die in der Scientology durch Rituale strukturiert sind. Die zentrale Praktik der Scientology, das Auditing, ist eine rituelle Aktivität in dem Sinn, den ein Anthropologe dieser Bezeichnung zuordnen würde: eine hochstrukturierte Prozedur, die strengen Regeln unterliegt und peinlich genau wiederholt wird. Das Auditieren wird in der Tat durch eine Reihe von sorgfältig festgelegten Schritten durchgeführt, die von dem Gründer der Kirche entwickelt wurden und ohne Abweichungen zu befolgen sind. Für die Kirche der Scientology legt das Auditing einen genauen Weg fest, einen exakten Kurs zu höheren Bewusstseinsebenen hin. Das Auditing wird als eine genaue Tätigkeit definiert, die exakt kodifiziert ist und nach genauen Verfahren durchgeführt wird:

„Beim Auditing werden Prozesse verwendet – genaue Reihen von Fragen oder Anweisungen, die von einem Auditor gestellt bzw. gegeben werden, um jemandem zu helfen, Dinge über sich selbst herauszufinden und seinen Zustand zu verbessern. Es gibt viele, viele verschiedene Auditing-Verfahren, von denen jedes die Fähigkeit des Individuums verbessert, Abschnitte seiner Existenz zu konfrontieren und diese zu bewältigen. Wenn in einem Prozess ein bestimmtes Ziel erreicht wurde, so wird dieser Prozess beendet und ein anderer kann begonnen werden, um auf einen anderen Lebensabschnitt der Person einzugehen.

Natürlich könnte man eine unbegrenzte Anzahl von Fragen stellen – die jemandem vielleicht helfen oder auch nicht. Der Erfolg der Dianetics und Scientology ist, dass L. Ron Hubbard die präzisen Fragen und Anweisungen herausisoliert hat, die unweigerlich zu einer Besserung führen.“ (Was ist Scientology?, 1992:156)

Es kann daher festgestellt werden, dass es sich beim Auditing um ein exaktes Ritual handelt und dass die wiederholte Teilnahme an diesem Ritual die Voraussetzung dafür ist, als ein Scientologe angesehen zu werden.

IV.III. DIREKTE ERFAHRUNG DER ULTIMATIVEN REALITÄT

Es wurde angeregt, dass die meisten traditionellen Religionen von ihren Anhängern erwarten, dass diese zu irgendeinem Zeitpunkt eine mehr oder weniger direkte ultimative Realität erleben. Diese Dimension der Religiosität bezieht sich auf die substantiven Definitionen der Religion und wir haben uns über dieses Thema bereits in unserer Übersicht über die substantiven Definitionen der Religion geäußert. Wir haben daher auch erwähnt, dass die religiösen Erlebnisse, die nicht gewöhnlich oder alltäglich sind, in der Scientology einen zentralen Platz einnehmen. So wie es bei anderen Religionen auch der Fall ist, werden solche Erlebnisse durch die Doktrin der Religion angeregt und interpretiert und sie werden weiterhin als ein Beweis der Richtigkeit der kosmischen Vision der Gruppe angesehen.

Die Scientology sieht sich als eine allmähliche, klar definierte und sichere Route zur Verbesserung des Bewusstseins, die das Individuum von einem Zustand spiritueller Blindheit zum Glück der spirituellen Existenz führt. Sie verspricht ihren Anhängern, dass dieses erweiterte Bewusstsein ihnen letztendlich dabei helfen wird, ihre eigene Unsterblichkeit zu sehen, die völlige Freiheit zu erfahren, allwissend zu werden und direkt den Sinn des Lebens, Todes und des Universums zu verstehen.

Die Scientology sieht sich als eine allmähliche, klar definierte und sichere Route zur Verbesserung des Bewusstseins, die das Individuum von einem Zustand spiritueller Blindheit zum Glück der spirituellen Existenz führt.

Die Scientology hat sich die gesamte und vollkommene Rehabilitation der inneren Fähigkeiten des Individuums als ein unsterbliches spirituelles Wesen zum Ziel gesetzt. Mit diesen Fähigkeiten würde ihm das gesamte Wissen über Masse, Energie, Raum, Zeit, Denken und Leben zur Verfügung stehen. Bei Erreichen dieses Zustandes wäre das Individuum dann in der Lage, das Unendliche direkt zu verstehen:

„Auf der Stufe Operating Thetan geht es um die eigene Unsterblichkeit des Individuums als ein spirituelles Wesen. Es geht um den Thetan selbst und seine Beziehung zur Ewigkeit; nicht die Ewigkeit, die hinter ihm liegt, sondern die Ewigkeit, die vor ihm liegt.“ (Was ist Scientology?, 1992:222)

Es kann daher angemerkt werden, dass die Scientology Kirche erwartet, dass ihre Anhänger durch ihre Teilnahme an den Praktiken und Schulungen in der Doktrin eine schrittweise Verbesserung des Bewusstseins erreichen, die letztlich zu einer direkten Erfahrung der ultimativen Realität führt.

IV.IV. RELIGIÖSES WISSEN

Nach den analytischen Definitionen der Religion erwarten die religiösen Institutionen, dass ihre Anhänger wenigstens über einen kleinen Teil der Informationen über die grundlegenden Postulate ihres Glaubens und seiner Rituale, Schriften und Traditionen verfügen. In Bezug auf diese Erwartung stellen wir fest, dass die Praktik der Scientology zu gleichen Teilen aus Auditing und Ausbildung besteht. Von den Anhängern wird erwartet, dass sie sich das Wissen der grundlegenden Doktrinen aneignen. In diesem Zusammenhang schreibt die Kirche:

„Durch Auditing wird man frei. Diese Freiheit muss man mit dem Wissen untermauern, wie man frei bleibt. In den Axiomen der Scientology ist der Aufbau des reaktiven Verstandes enthalten. Darüber hinaus enthält Scientology das nötige Wissen und Know-how, um mit den Gesetzen des Lebens umzugehen und diese zu kontrollieren. Die zentrale Ausübung von Scientology setzt sich also in gleichen Teilen aus Auditing und Ausbildung in den Grundlagen der Scientology zusammen, was die Technologie ihrer Anwendung mit umfasst. Wenn man die Mechanismen kennt, durch die man spirituelle Freiheit verlieren kann, ist man vor ihrem Einfluss geschützt. Das ist eine Freiheit an sich.

Auditing lässt einen erkennen, wie etwas passiert ist, und Ausbildung, warum.“ (Was ist Scientology?, 1992:164)

Es kann daher festgestellt werden, dass die Scientology Kirche, wie es bei den meisten religiösen Traditionen der Fall ist, dem Vermitteln der Lehren der Bewegung wohlwollend gegenübersteht. Die gleiche Doktrin sichert die Aneignung von religiösen Informationen durch symbolische Belohnungen an diejenigen, die danach streben: Wer sich das Wissen über ihre Prinzipien aneignet, hält die Gesetze des Lebens in der Hand und ist frei von den Gefahren, die seine spirituelle Freiheit bedrohen.

IV.V. KONSEQUENZEN IM TÄGLICHEN LEBEN

Es wurde festgestellt, dass die meisten religiösen Institutionen erwarten, dass der religiöse Glauben, die Teilnahme an Ritualen, die religiösen Erfahrungen und die Kenntnis der prinzipiellen Doktrinen Auswirkungen auf das tägliche Leben ihrer Anhänger haben werden. Wie bereits bei den funktionellen Definitionen der Religion angesprochen wurde, postuliert die Scientology, dass ihre Praktiken und ihre Ausbildung den Leuten dabei hilft, sich von irrationalen Ängsten und psychosomatischen Krankheiten zu befreien, ruhiger und ausgeglichener zu werden, mehr Energie zu haben, sich besser zu verständigen, ihre Beziehungen zu anderen in Ordnung zu bringen und wiederzubeleben, persönliche Ziele zu erreichen, ihre Ängste und Beklemmungen über Bord zu werfen und mehr Selbstvertrauen zu gewinnen, Freude zu verspüren und zu verstehen, wie man glücklich werden kann.

Die Kirche der Scientology erwartet weiterhin von ihren Anhängern, dass sie anderen dabei behilflich sind, Zustände zu ändern bzw. zu verbessern, und fordert sie dazu auf, Auditoren zu werden:

„Der Bedarf an Auditoren ist groß, da die menschlichen Wesen nur einzeln, einer nach dem anderen, errettet werden können. Im Gegensatz zu Gemeindereligionen findet diese Rettung in der Scientology durch eine Zweierbeziehung zwischen Auditor und Preclear statt. Viele Scientologen lassen sich als Auditoren ausbilden, und jeder Scientologe, der zu dem religiösen Auftrag von Scientology beitragen und seinen Mitmenschen damit helfen will, sollte das tun. Als positive Nebenerscheinung hat man den zusätzlichen Gewinn, dass man das Leben besser verstehen und meistern kann, als man je für möglich gehalten hätte. Es gibt kein edleres Ziel, als seinen Mitmenschen zu helfen, und keinen besseren Weg, um dieses Ziel zu erreichen, als ein Auditor zu werden. Auditoren wenden das Gelernte an, um anderen mit Auditing zu helfen und Zustände zu verbessern, wo auch immer sie dies für notwendig halten.

Das ist die Mission des ausgebildeten Scientologen, und in seinem Verständnis, seinem Mitgefühl und seiner Geschicklichkeit ruhen die Träume von einer besseren Welt.“ (Was ist Scientology?, 1992:169)

Es kann daher festgestellt werden, dass die Scientology Kirche, wie die meisten religiösen Institutionen, erwartet, dass das Teilen ihres Glaubens, die Teilnahme an ihren Ritualen, das direkte Erleben der ultimativen Realität und die Kenntnis ihrer prinzipiellen Doktrinen Auswirkungen auf das tägliche Leben ihrer Anhänger haben wird. Zu diesen Auswirkungen gehören die verbesserte Fähigkeit, mit dem eigenen Leben fertig zu werden, die Verbesserung der eigenen Fähigkeiten und eine bessere Lebenseinstellung sowie die Fähigkeit, anderen zu helfen.

Es kann daher zusammenfassend festgestellt werden, dass die Scientology Kirche von ihren Anhängern Frömmigkeit in dem Sinn erwartet, den die analytischen Definitionen der Religion diesem Ausdruck verleihen. Resultat: Sie bietet einen Rahmen, damit sich die Anhänger an den prinzipiellen Doktrinen beteiligen können, und erwartet, dass diejenigen, die daran teilnehmen, ein direktes Erleben der ultimativen Realität erreichen, sich Informationen über die Prinzipien ihres Glaubens aneignen und die Auswirkungen in ihrem täglichen Leben erleben. Nach den analytischen Definitionen der Religion stellt die Scientology Kirche daher eine religiöse Institution dar, da ihre Erwartungen in Bezug auf ihre Anhänger sich mit dem decken, was solche Institutionen von religiösen Menschen erwarten.

V. Scientology und die emischen Definitionen der Religion
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